Zwei Interpretationen von IMAGINE

von Aleksander Zielinski

Es war nicht einfach, einen Popsong zu finden, den jeder kennt, um ihn als Paradebeispiel für eine einfache und praktische Einführung in das Hören zu verwenden. Meiner Meinung nach hätte sich nicht jeder beliebige altbekannte Song dazu geeignet: Es musste einer sein, der in die menschliche DNA eingeprägt ist, einer, der so bekannt ist, dass er viele weltbekannte Künstler dazu inspiriert hat, ihre eigenen Versionen aufzunehmen. Und im Idealfall sollte auch diese zweite Version sehr bekannt sein – so bekannt, dass beide Stücke zu ewigem Ruhm gelangt sind, obwohl es sich um ein und dasselbe Lied handelt.

Das klingt verworren? Vielleicht. Aber wenn ich verrate, dass wir über Imagine sprechen, das 1971 von John Lennon geschrieben und (neben vielen anderen) von Ray Charles 2002 neu interpretiert wurde, wird es vielleicht etwas deutlicher.

Diese Analyse beginnt mit der ursprünglichen Version von Lennon, gefolgt von der (atmosphärischen) Version, die Ray Charles (2002, „Ray Charles Sings for America“) zusammen mit den Harlem Gospel Singers gesungen hat. Imagine ist ein Song, der vor allem aus drei Gründen tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Da ist erstens seine pazifistische, aber trotzdem weltliche, antikapitalistische und fast schon antireligiöse Botschaft. Zweitens wurde es in den siebziger Jahren geschrieben, die von vielen als das goldene Zeitalter der Pop- und Rockmusik angesehen werden. Und drittens wegen des Charismas und des prominenten persönlichen Lebens der beiden Interpreten.

Über die erste Version von Lennon – eine Utopie von globaler Harmonie und eine echte Ikone der Popmusik – gibt es kaum noch etwas Neues zu sagen, außer dass wir vielleicht kurz überlegen, was Popmusik wirklich ist.

Popmusik, im Italienischen auch als musica leggera („leichte Musik“) bekannt, ist Musik, die relativ einfach und schnell zu verstehen ist. Ihr Hauptzweck besteht darin, die Zuhörer zu unterhalten und sie zum Singen oder Tanzen zu bringen. Sie muss von ihrer Art her für das breite Publikum zugänglich sein – das heißt, sie muss Spaß machen und vor allem eine eingängige Melodie und einen mitreißenden Rhythmus haben. In ihrer grundlegendsten Form zeichnet sich Popmusik außerdem durch ihre geradlinigen und leicht wiedererkennbaren Refrains aus. Das bedeutet, dass Popsongs in der Regel auf einer Struktur aus Strophen und Refrain basieren. Ich muss hier wohl nicht erklären, was ein Refrain ist. Ich möchte, auch wenn es vielleicht zu vereinfachend ist, aber sagen, dass der Refrain der Teil ist, der im Gedächtnis hängen bleibt, wenn er gut geschrieben ist. Das wird dadurch unterstützt, dass er mehrmals wiederholt wird. Dadurch gliedert er die (in der Popmusik fast immer romantische) Geschichte, die in den (üblicherweise drei) Strophen erzählt wird, wie eine Art Satzzeichen.

Die Popmusik ist über die Jahrzehnte mehr oder weniger gleich geblieben, mit nur wenigen kleinen Variationen oder Einflüssen aus anderen Musikgenres. Allerdings hat sich die Bandbreite bei der Instrumentierung vergrößert. Hier schöpft die Popmusik mehr und mehr aus der Elektronik, wo die Effekte und Klänge so vielfältig und individuell sind, dass sie inzwischen mit bestimmten Künstlern gleichgesetzt werden. Vor allem in der Entwicklung des Pop ist es oft der Interpret, der zum Mittelpunkt des Songs wird, indem er den Fokus von der Musik weg und hin zu seinem speziellen „Image“ verlagert. Dieses Image hat in letzter Zeit gegenüber dem Inhalt der Songs immer mehr an Bedeutung gewonnen. Der lyrische und musikalische Inhalt rückt dagegen zunehmend in den Hintergrund.

Imagine hat in seiner entwaffnenden Einfachheit jedoch viel zu „erzählen“. Es hat – vielleicht weil es vor fast 50 Jahren geschrieben wurde – alle charakteristischen Merkmale der ursprünglichen Popmusik herauskristallisiert, die auch heute noch weitgehend anwendbar sind.

Auch heute noch kann man in Lennons Stück ganz einfach zwischen den einzelnen Strophen und dem Refrain (niemand kann den Refrain von Imagine vergessen) unterscheiden. Imagine ist eine sanfte Ballade im 4/4-Takt. Das bedeutet, dass sie einen entspannten Rhythmus hat, der dem rhythmischen Tempo eines Spaziergangs ähnelt. Die eher „softe“ als „rockige“ Stimmung des Songs entsteht auch durch die eingesetzten Instrumente (das Klavier erinnert sofort an einen klassischen Aspekt) und das Arrangement (welche/wie viele Instrumente wie und wann verwendet werden). In Imagine ist das Arrangement so einfach, dass es fast schon puristisch wirkt: das Klavier, das auch den Bassteil übernimmt (siehe unten), dazu Schlagzeug und Streichinstrumente (also alle Instrumente mit Saiten, wie beispielsweise die Violine). Es kann für jedes Ohr ein hervorragendes Training sein, herauszuhören, welche Instrumente verwendet wurden und wo im Stück sie zu hören sind. In neueren Popsongs lautet die Faustregel „von wenig zu viel“: Es geht mit einer Stimme und nur wenigen Instrumenten los, dann kommt der Bass dazu, dann das Schlagzeug und so weiter. Am Ende werden dann normalerweise alle Instrumente zusammen gespielt.

Das Arrangement ist wie ein Anzug, der für das jeweilige Stück maßgeschneidert ist und die „Atmosphäre“ des Songs selbst vermittelt. Dadurch wird es zu einem echten Mehrwert. Wenn man einen bildlichen Vergleich anstellt, wäre es wie der Rahmen, den man einem Gemälde geben möchte, der aber Teil des Gemäldes selbst ist. Darauf kommen wir aber gleich noch einmal zu sprechen.

Kehren wir zu Imagine zurück, diesmal aber, um zu sehen, was fehlt: nämlich der Bass. Mit Bass meine ich die elektrische Gitarre mit vier Saiten, die die tieferen Töne erzeugt, die in einem Song zu hören sind. Der Bass bildet auch die Grundlage für alle Akkorde und die Gitarre (mit ihren Effekten und Solos). Dass diese Elemente fehlen, muss als bewusste Entscheidung angesehen werden, um die subtile, fast schon schwebende Atmosphäre des Songs zu betonen. Außerdem gibt es auch keinen romantischen Liedtext im engeren Sinn. Ebenso fehlt eine Modulation, also eine Wiederholung desselben Teils (fast immer des Refrains) in einem höheren Ton, als würde die Melodie plötzlich eine Stufe „höher steigen“, um den Zuhörer nicht zu langweilen (es gibt viele Arten dieser „Erhöhung“, aber dies ist die auffallendste). Es gibt auch keine Bridge. Die Bridge ist ein Teil, der nur einmal vorkommt, normalerweise vor dem letzten Refrain, mit Text und Musik, die an keiner anderen Stelle im Song vorkommen.

Verglichen mit vielen aktuelleren Pop-Hits lässt Imagine auch noch etwas anderes „vermissen“, was dem Song im Gegenzug eine weitere Besonderheit verleiht: Es ist auf sehr wenigen Akkorden aufgebaut – insgesamt zehn. Diese Einfachheit sollte nicht als Mangel oder Versäumnis, sondern als Bereicherung gedeutet werden.

Und schließlich gibt es im Gegensatz zum Großteil der heutigen Popmusik keine Sänger oder Chöre, die den Sologesang mit Backgroundstimmen oder Chorelementen begleiten.

Es muss genau dieses letzte „fehlende“ Merkmal gewesen sein, das Ray Charles, den Erfinder der Soul-Musik, auf irgendeine Art bewegt haben muss, denn sein neues Arrangement von Imagine hat er wie einen exklusiven Maßanzug auf sich selbst zugeschnitten. Soul ist eine Mischung aus Jazz, Gospel und Pop; es ist ein sehr ausdrucksstarkes und intimes Musikgenre, das sich auf allgemeingültige Themen konzentriert. Mit Soul lässt sich ein breites Spektrum von Emotionen zum Ausdruck bringen. Soul-Songs haben einfache Texte, die mit Jazz-Rhythmen verwoben, schwer zu singen und voller Schnörkel sind, und einen instrumentalen Blues-Hintergrund.

In Imagine von Ray Charles wird der intime, durch Lennons Text inspirierte Soul-Aspekt in dem ausgefeilten und gewundenen Gesang deutlich, der fast so klingt, als wäre er das Ergebnis einer komplexen inneren Einkehr.

Ray Charles ändert außerdem die Taktart. Bei ihm ist Imagine keine Ballade im 4/4-Takt mehr, sondern im 6/8-Takt, einem Tempo also, bei dem man schneller bis sechs zählt. Dieser Tempowechsel im Vergleich zu Lennons Version ist schon im Intro zu erkennen.

Im Arrangement sind das Klavier und die Streichinstrumente genauso vorhanden wie in der ursprünglichen Fassung, allerdings werden sie hier von Hammondorgel, Gitarre und Bass begleitet. Der vielleicht markanteste Aspekt dieser Version ist aber der Gesang. Einerseits verstärkt und „beleuchtet“ der Gospelchor einige Worte des Solisten und schwächt ihre Verzerrungen ab; andererseits wirkt der Background-Gesang (hier von R. Studdard) wie eine Gegenmelodie zum Solisten. Diese Elemente wirken wie ein raffinierter Dialog. Man muss kein Musiker sein, um – nicht nur mit den Ohren – die Wirkung der emotionalen Spannung und Entspannung zu spüren. Im Vergleich zu Lennons Originalversion sind sie weniger schlicht und keineswegs unbedeutend.

Ich habe schon erwähnt, wie das Arrangement und der Einsatz von Instrumenten das emotionale Bild einrahmen, das der Text zeichnet. Bei Ray Charles ist dieses Soul-Bild erst vollständig, wenn wir auch die Religiosität der afroamerikanischen Musik und die Allgegenwart ihrer spirituellen Dimension erwähnen. Auch wenn es sich bei diesem Stück nicht um eine geistliche Hymne, ein spirituelles Lied oder einen Gospel-Song handelt, kommt der Aspekt der spirituellen Erhöhung beim Soul oft zum Tragen. Vielleicht finden wir in dieser Neuinterpretation von Imagine die religiöse Ader, die in John Lennons Version fehlt? Schließlich sagt Lennon sogar ausdrücklich: „Imagine there's no Heaven (...) and no religion too“ – übersetzt: Stell Dir vor, es gibt keinen Himmel ... und auch keine Religion.

Meiner Meinung nach ist das vermutlich der Fall. Das ist aber nur meine persönliche Ansicht, über die sich streiten lässt. Angesichts dieser beiden großen (und unbestreitbaren) Giganten der Musik ist es jetzt aber an der Zeit, dass ich aufhöre zu reden und stattdessen selber wieder zuhöre.

Imagine, John Lennon (1971)

Imagine, Ray Charles, with R. Studdard and The Harlem Gospel Singers (2002)